4. Oktober 2015

"Justine oder Vom Missgeschick der Tugend" von Marquis de Sade

Ein Quentchen weniger von Ihrer lächerlichen Sittsamkeit, und Sie könnten ohne weiteres ein angenehmes Dasein bei jedem großzügig denkenden Menschen finden. Das sollte Ihr eigentliches Ziel sein; mit der Tugend, auf die Sie so stolz pochen, kann die Welt überhaupt nichts anfangen. Sie können ruhig darauf hinweisen, aber kein Mensch wird Ihnen ein Glas Wasser dafür geben. Leute wie ich, die so tun, als ob sie wacker Almosen spenden - was wir in Wirklichkeit am allerwenigsten tun, ja, was uns geradezu anekelt - wollen für das Geld, das aus ihrer Tasche kommt, etwas eintauschen. Was kann nun ein kleines Mädchen, wie Sie es sind, uns für eine erwiesene Hilfe geben, wenn nicht die vorbehaltlose Zustimmung zu allem, was man von ihr verlangt?

Lassen Sie mich dem Tod entgegengehen. Ich fürchte ihn nicht, er wird meinem Leiden ein Ende setzen. Nur der muss ihn fürchten, der glücklich und friedlich lebt, aber das arme Geschöpf, das immer wieder auf Schlangen getreten ist, dessen blutige Füße nur Dornen verspürten, das die Menschen nur kennenlernte, um sie hassen zu müssen, das nur gelebt hat, um das Leben zu verabscheuen - das Mädchen, das Eltern, Vermögen, Hilfe, Schutz, Freunde verloren hat, das in der Welt nur Tränen als Trank und Leiden als Nahrung hatte - es sieht den Tod nahen, ohne vor ihm zu zittern. Sie sehnt sich sogar nach ihm wie nach einem sicheren Hafen, in dem wieder die Ruhe einkehren wird - im Schoß eines gerechten Gottes, der gewiss die Unschuld, die auf Erden immer verfolgt wurde, im Himmel trösten und ihre Tränen trocknen wird!
aus: "Justine oder Vom Missgeschick der Tugend" von Marquis de Sade

Justine und ihre Schwester Juliette werden jung zu Waisen. Während Juliette den Weg der Laster wählt, ist Justine zu tugendhaft und fromm, um sich den Lastern hinzugeben und Verbrechen zu begehen, um sich selbst Vorteile zu verschaffen.
Auf ihrer Suche nach einer Unterkunft und Arbeit begegnet das junge Mädchen vielen Menschen, in denen sie jedes Mal wieder das Gute sieht. Leichtgläubig wie sie ist, fasst sie schnell Vertrauen. Während sie immer wieder hofft, Menschen zu finden, denen die Tugend ebenso viel bedeutet wie ihr, muss sie feststellen, dass die meisten, denen sie ihre Geschichte erzählt, ihre Leichtgläubigkeit und Tugendhaftigkeit auszunutzen zu wissen. Vergewaltigungen, Sadismus, Morde und Diebstähle sind nur einige der schrecklichen Dinge, die dem jungen Mädchen auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt widerfahren.
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Ich finde es schwer, ein Buch wie "Justine" von Marquis de Sade zu rezensieren bzw. finde ich es generell sehr schwer, 'Klassiker' zu bewerten.
Doch liest man sich auf diversen Plattformen die Rezensionen zu diesem Werk durch, stellt man fest, dass sie sehr zwiegespalten und teilweise auch sehr negativ sind. Daher komme ich einfach nicht umhin, meine positive Meinung niederzuschreiben ;-)

Es ist keine leichte Kost. Das sollte aber jedem, der sich mit solchen Werken befassen möchte, auch im Vorfeld klar sein. Ich habe die zweite Fassung gelesen und mich letztendlich gewundert, was alle nun sooo schlimm daran finden. Später habe ich dann rausgefunden, dass die dritte Fassung wohl um einiges detaillierter und grausamer ist. Die zweite Fassung fand ich persönlich fast 'harmlos'. Die sadistischen, grausamen Szenen werden allesamt nicht gerade detailliert beschrieben, vieles bleibt dem Kopfkino des Lesers überlassen, wird eigentlich nur angedeutet.


Das ganze Thema, das ganze Unglück, das Justine widerfährt, einfach nur, weil sie nicht gegen ihre eigenen Prinzipien verstoßen möchte, weil sie den selbstgewählten Weg der Tugend nicht verlassenmöchte, ist schockierend und tragisch. Als Leser tut Justine einem wirklich Leid - allerdings entwickelt man irgendwann auch eine, mindestens leichte, Wut auf sie, weil sie aus ihrem bisherigen Leidensweg nicht lernt, weil sie trotzdem auf ihren Werten beharrt. Man weiß irgendwann einfach nicht mehr, ob das bewundernswert oder einfach nur dämlich ist. Man verliert selbst den Glauben daran, dass das "Gute" immer gewinnt, dass alles irgendwann belohnt wird.

Mich hat "Justine" auf jeden Fall sehr berührt und bewegt. Ich hätte auch nie gedacht, dass es zu den Büchern gehört, bei denen ich mir am Ende die Augen ausweine!
Für sehr zartbesaitete Leser würde ich es nicht unbedingt empfehlen. Es ist halt keine seichte Liebesromanze ;-) Das sollte jedem bewusst sein. Aber ansonsten - klare Empfehlung und volle Punktzahl!
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