2. August 2015

"Der Zweite" von Leonie Haubrich

Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man, doch ich kann es nicht bestätigen. Die Zeit lehrt mich nur, den Schmerz besser zu verbergen, doch fühle ich mich noch immer wie die schwangere Katze, die mir in meiner Kindheit zugelaufen ist. Morle haben wir sie genannt. Sie war abgemagert bis auf die Knochen, nur ihr Bauch war so rund, dass es grotesk aussah. Sie hat Unterschlupf in unserem Keller gesucht. Wir haben sie gefüttert. Acht Junge hat sie geboren, die alle innerhalb von wenigen Stunden gestorben sind. Wir haben die kleinen, teils noch nackten Körper im Garten begraben, aber die Katze hat es nicht begriffen. Maunzend und schnuppernd ist sie durch die Räume gestreift, auf der Suche nach ihren Kindern.
aus: "Der Zweite" von Leonie Haubrich

304 Seiten:
ISBN: 9781515073062
Verlag: Self Publishing
Kurz nach der Geburt ihrer Zwillinge sagt man Britta, ihr Sohn Tim sei gestorben. Obwohl es ihrer Tochter Jennifer gut geht, kommt Britta nie über den Verlust ihres Sohnes hinweg. Einundzwanzig Jahre später stößt sie auf Hinweise, die vermuten lassen, dass Tim vielleicht doch gar nicht tot ist. Britta beginnt, nach Antworten zu suchen und stößt schon bald darauf, dass noch andere Säuglinge verschwunden sind. Steckt dahinter vielleicht doch ein Komplott? Lebt ihr Sohn Tim noch und ist in einer anderen Familie aufgewachsen? Britta sieht sich schon bald mächtigen Gegener gegenüber, die alles daran setzen, sie zum Schweigen zu bringen...
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Ein Kind tot zu gebären oder direkt nach der Geburt zu verlieren, ist schon schlimm genug - doch Britta konnte auch nie wirklich damit abschließen, nie hat sie den toten Säugling gesehen, nie konnte sie sich damit abfinden, dass ihr kleiner Tim nicht lebt. Die Vorstellung von dem, was Britta durchmacht, bringt Leonie Haubrich in "Der Zweite" sehr gut rüber. Bereits im Prolog, in dem der Leser erfährt, was bei und nach der Geburt passiert ist, litt ich mit der Protagonistin mit - und war gefesselt von dem Schreibstil der Autorin, davon, wie bildlich und "hautnah" sie die Szenerie beschreibt.

Im weiteren Verlauf des Buches befand ich mich oft in eine Zwiespalt. Einerseits konnte ich Britta so gut verstehen, ihre Sehnsucht nach Tim, ihre Zweifel an seinem Tod, ihre Suche nach Antworten - doch dann ist da ihre Tochter Jennifer, die ihr Leben lang darunter leiden musste, nur "zweite Wahl" zu sein.
Diesen Zwiespalt, die Emotionen, die Trauer, die Wut, die Verzweiflung - das alles geht dem Leser während der Lektüre wirklich nahe. Mir fiel es sehr schwer, das Buch nochmal wieder wegzulegen. Ich wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht, was noch passiert, wie es sich aufklärt, wer gut ist und wer böse.

Irgendwann wusste ich selbst nicht mehr, wer zu den Guten gehört, wer zu den Bösen gehört, wem man trauen könnte und wem nicht - und von dem Ende war ich dann sowieso SEHR überrascht! Im Nachhinein erscheint es mir zwar total logisch, aber während des Lesens hatte ich damit trotzdem nicht gerechnet.
Mit dem letzten Kapitel war es dann auch so weit - ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und habe mir die Augen ausgeweint.

Die Story, die Ideen, die Umsetzung, die Charaktere, der Schreibstil - mich konnte Leonie Haubrich mit dem Gesamtpaket voll überzeugen!
Die Spannung lässt an keiner Stelle des Buches nach, eher baut sich der Spannungsbogen immer weiter auf. Die "Auflösung" erfolgt dann letzten Endes relativ schnell, was ich allerdings recht passend fand und was dem (sehr emotionalen!) Ende keinerlei Abbruch tut.

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